Wie schön es doch ist, in der Dichtung zu Hause zu sein

Diesen Text habe ich für die Frankfurter Buchmesse 2011 geschrieben als Island das Ehrengast der Messe war. 

Ich weiß nicht, ob ich als Kind mit einer lebhafteren Phantasie begabt war als andere Rotzlöffel meines Alters, und ich war auch nie schwanger, wie es der isländische Schriftsteller Þórbergur Þórðarson von sich behauptet. So rege war meine Vorstellungskraft dann doch nicht. Aber ich konnte mir selbst richtig Angst einjagen – so ein Kinderherz ist schließlich ziemlich zart besaitet.

Meine Familie väterlicherseits war und ist immer noch im Besitz eines Sommerhauses in der Nähe des Vulkans Hekla. Wie man sich vorstellen kann, ist jenes Haus von Lava umgeben. Mit meinem Vater habe ich dort ziemlich viel Zeit verbracht, schöne Stunden, in denen ein Kind einfach nur Kind sein durfte. Wenn die Dämmerung einsetzte, schlich ich mich manchmal hinaus in die Dunkelheit zu den Wunderwesen, die man in den bizarren Lavagebilden entdecken kann. Ich sah Trolle, Geister, diverse Ungeheuer und Elfen.

Wer schon einmal im Dunkeln spaziert ist, kann sicher bestätigen, dass man leicht Gefahr läuft, alle möglichen Wesen zu erblicken, sobald man für einen Augenblick vergisst, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Ja, in einem ungeschliffenen, unerfahrenen Kopf kann alles Mögliche Stoff für die größten Abenteuer werden.

[Zwischenbemerkung: Daraus könnte man schließen, dass Märchen im Dunkeln entstehen und der einst weitverbreitete Glaube an Wunderwesen der Elektrizität zum Opfer gefallen ist.]

Island hat für viele etwas Abenteuerliches an sich. Was mit Sicherheit daher rührt, dass die meisten über kein großes Islandwissen verfügen. Dieser Wundermärchenhauch, den die Insel atmet, war einst noch viel stärker. Damals war es ein beliebter Zeitvertreib, Märchen über dieses abgelegene Eiland mitten im Ozean zu erdichten – ja, nicht selten wird Abgelegenheit mit Eigenartigkeit gleichgesetzt. Damals wie heute hatten die Deutschen beim Verfassen solcher Schriften die Nase vorn. Dabei ließen sie Land und Leute oftmals nicht gerade im besten Licht dastehen. Kurz gesagt: Vom 11. Jahrhundert bis zum heutigen Tage schwingt in Islandschilderungen[1] der Hauch von Exotik mit, der die Insel umweht. Mal wurde sie als Traumland, mal als Abschaumland dargestellt: Entweder als eine Art Arkadien, wo alles blüht und die Menschen im Einklang mit Gott und der Welt leben, oder als Dystopie, die Sodom und Gomorra in nichts nachsteht.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass in vielen Köpfen der Gedanke feststeckt, dass die Insulaner an Elfen glauben. Zumindest wird man als Isländer im Ausland ständig danach gefragt. Ich muss zugeben, dass mir derartige Fragen schon lange auf den Geist gehen – obwohl ich natürlich trotzdem immer brav antworte, bin schließlich ein wohlerzogener Junge.

Aber dann habe ich nochmal darüber nachgedacht. Kein Wunder, dass uns solche Fragen gestellt werden. Die Leute wissen es einfach nicht besser. Island ist kein Land, wo man mal eben so hinreist, daher prägen sich die Leute Dinge ein, die sie irgendwo aufschnappen und die spannend klingen. Und klar: Am interessantesten sind natürlich Geschichten darüber, dass Islands Bewohner an Elfen glauben, dass alle Isländer vor Kreativität nur so sprühen, dass sie dieselbe Sprache wie vor 1000 Jahren sprechen und daher die alten Handschriften noch verstehen, dass sie unglaublich büchervernarrt sind usw., all diese Klischees. Völlig uninteressant hingegen ist, dass den meisten Isländern mehr an Desperate Housewives und Two and a Half Men als an Halldór Laxness, Volksmärchen und den Isländersagas gelegen ist und dass die Sprache, die wir heute sprechen, mehr vom Englischen geprägt ist als von irgendeinem Isländisch aus goldenen Zeiten.

Aber ganz ehrlich: Alles, was die Phantasie anregt, ist sexy; Altbekanntes ist das selten. Das ist wie bei einem Kind, das noch ganz unberührt ist von der gesegneten Vernunft, die solche Gedanken als Hirngespinst und Unsinn und etwas abtut, das nur in der Dichtung zu Hause ist. Ja genau, das ist der Kern der Sache! Wie schön es doch ist, in der Dichtung zu Hause zu sein.

Aus dem Isländischen von Anika Lüders

[1] Besonders der Historiker Sumarliði Ísleifsson hat sich intensiv mit ausländischen Islandbildern im Wandel der Zeit beschäftigt.